Das „Verlorene Evangelium“

Die Geschichte von Joseph und Aseneth:

Eine Historie über Jesus und Maria Magdalena?

Anmerkungen zu dem neu erschienenen Buch The Lost Gospel von Simcha Jacobovici und Barrie Wilson

Es ist ein heißes Eisen, das Dokument aus dem Jahr 570 n. Chr., British Library Manuscript Nr. 17,202. Bis dato war es keineswegs unbekannt, wohl aber stark vernachlässigt. Nur wenige TheologInnen befassten sich bislang damit, doch keiner von diesen kam auf das schier unglaubliche, aber naheliegende Ergebnis, welches Jacobovici und Wilson in sechs Jahren Arbeit erzielten. Die Autoren entdeckten die Schrift in gewisser Weise neu und präsentierten nun die ganze Fülle ihrer Recherchearbeit in dem brandneuen Buch The lost Gospel. Decoding the Sacred Text That Reveals Jesus' Marriage to Mary the Magdalene. Und dieses Buch hat es in sich.

Zur Entstehung, Datierung und Einordnung

Das Dokument, welches im Jahr 570 von einem unbekannten syrischen Mönch zusammengestellt wurde, enthält neben vier anderen Texten vor allem ein gnostisches Evangelium mit dem Titel Die Geschichte von Joseph dem Gerechten und seiner Frau Aseneth. Es handelt sich dabei um einen Text in syrischer Sprache, der aus dem Griechischen übersetzt wurde und ursprünglich nur den Titel Aseneth hatte. Daraus geht bereits dezent hervor, dass der Schwerpunkt dieses Evangeliums auf der Frau liegt, nicht auf dem Mann, und das allein ist Rahmen dieser Zeit schon sehr bemerkenswert.

Die erste in schriftlicher Form erhaltene Fassung stammt aus der Bibliothek der Bischöfe von Beroea in der Stadt Reshaina, gelegen an der persischen Grenze. Der unbekannte Mönch, dem die Autoren den Namen Zacharias II. geben, bittet einst den zuständigen Sachverständigen - einen gewissen Moses von Ingila - um die Übersetzung des Textes ins Syrische. Seine Motivation besteht darin, dass er eine verborgene Weisheit und einen inneren Sinn in dem Text zu erkennen glaubt. Deshalb erbittet er sich von besagtem Moses nicht nur die Übersetzung, sondern auch Erläuterungen. Moses von Ingila stimmt der Übersetzung zu, doch was die Exegesen angeht, so zögert er. Er hat eine dunkle Ahnung, dass dieses Evangelium etwas Verbotenes enthalten könnte und zitiert in seiner Antwort an Zacharias einige Verse aus den Proverbien: 10,19: Bei vielem Reden bleibt die Sünde nicht aus, wer seine Lippen zügelt, ist klug. , 13,3: Wer seine Lippen hütet, bewahrt sein Leben, wer seinen Mund aufreißt, den trifft Verderben , sowie 25,2a: Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verhüllen . Man solle also besser den Mantel des Schweigens über diese ominöse Schrift decken. Nach dem Studium der griechischen Fassung hatte Moses ganz offensichtlich dieselbe Ahnung wie Jacobovici und Wilson rund 1500 Jahre nach ihm.

Dass der Ingilaner bei diesem Text Vorsicht walten lässt, ist mehr als verständlich, wenn man die Hintergründe seiner Zeit berücksichtigt. Denn das Evangelium von Joseph und Aseneth ist eindeutig von gnostischer Prägung. Der eindeutige Beweis dafür ist das Sakrament vom Brautgemach, welches wir besonders aus der valentinianischen Gnosis kennen. In einigen allegorischen Szenen teilt Aseneth sozusagen ihr Bett mit dem engelhaften Joseph. Für das Grundverständnis dieses Textes ist dies der zentrale Gedanke, um die Einheit zwischen der gewandelten, transformierten Aseneth und dem Himmlischen Joseph darzustellen. Die Parallelen zur gefallenen Sophia und dem äonischen Soter sowie ihren irdischen Manifestationen Maria Magdalena und Jesus Christus sind eindeutig und keineswegs zu übersehen. Und ganz offensichtlich wird bei JuA die Theologie des Brautgemachs verwendet, um die Bedeutung der Ehe hervorzuheben! An die Beschreibung des Brautgemachs knüpft sich indes kein Ritual wie bei den Valentinianern, sondern erinnert einfach nur an die irdische Ehe und ihre Wichtigkeit. Dass aber die Idee vom Brautgemach im JuA bereits existierte, ohne weiter ausgearbeitet worden zu sein, dürfte durchaus ein Indiz dafür sein, dass dieser Gedanke bereits vor der Zeit des Valentinus vorhanden war, um später von dem größten aller Gnostiker zum Sakrament des Brautgemachs ausgearbeitet zu werden - und in diesem Fall fiele der Ursprung des Textes ins späte 1. oder frühe 2. Jahrhundert.

Zu der Zeit, als Zacharias II. und Moses von Ingila an ihrer Sammlung arbeiteten, hatte gerade die paulinische Form des Christentums über die gnostische triumphiert. Im 4. Jahrhundert hatte Konstantin der Große das paulinische Christentum mit Gewalt in seinem Reich eingeführt, und die Folge davon waren Massenverfolgungen und Ermordungen gnostischer Christen, die auch im 5. und 6. Jahrhundert noch stattfanden. Hierbei hatten sich besonders die Richtlinien des Bischofs Athanasius von Alexandria in seinem Erlass aus dem Jahr 367 durchgesetzt. Man stelle sich nun also vor, in welche Not manche Mönche gerieten, die ihre heiligen Schriften nicht aufgeben oder ausschließen wollten! Welche Möglichkeiten blieben ihnen? Entweder diese Schriften zu verbergen, oder aber die wahren Namen der wichtigsten Personen zu verschleiern, besser gesagt: umzubenennen! Warum nun entschied sich der Zacharias II. genannte Mönch für die Decknamen Joseph und Aseneth aus dem Alten Testament, und für wen stehen diese Namen wirklich?

Joseph = Jesus, Aseneth = Maria Magdalena

Zu dieser Identifikation zunächst zwei Zitate aus JuA:

3,7 Sie [Aseneth] setzte sich eine Krone auf ihr Haupt und bedeckte sich mit Brautschleiern. 4,1 Geschwind stieg sie aus ihrem Schlafgemach herab zu ihrem Vater und ihrer Mutter. Sie grüßte und küsste sie. Potiphar und seine Frau waren sehr glücklich mit ihrer Tochter, und sie erblickten sie geschmückt wie eine Braut Gottes.

Das bedeutet, dass Aseneth unmittelbar vor ihrer Hochzeit steht, denn sie ist geschmückt wie eine Braut! Dass sie aber wie eine Braut Gottes hergerichtet ist, deutet auf einen sehr hochstehenden Bräutigam hin. Der Gott Jahwe des Alten Testaments hat keine Braut, kein weibliches Gegenstück, keine Gefährtin. Dass einige archäologische Funde etwas anderes andeuten, steht auf einem ganz anderen Blatt. Jedenfalls ist der Text fernab von jeglicher jüdischer Tradition, sondern gehört eher in die Kategorie der gnostisch-christlichen Evangelien. Hierbei ist auch anzumerken, dass die letzten Worte 4,1 stark an Offenbarung 21,2 erinnern, wo die als Neues Jerusalem versinnbildlichte Braut für ihren Bräutigam herabkommt. Diese Parallele dürfte wohl kaum auf Zufall beruhen, denn wie nicht nur Margaret Starbird und meine Wenigkeit (siehe Die Göttin des Christentums: Maria Magdalena, S. 71, 86, 87, 89, 118, 175, 193, 292), erarbeiteten, verbirgt sich hinter dem Neuen Jerusalem niemand anders Maria Magdalena, wodurch diese auch zum Symbol der Ecclesia wird.

6,3 Ich aber, anmaßend und dumm, behandelte ihn mit Geringschätzung und sprach närrisch von ihm, weil ich nicht wusste, dass Joseph der Sohn Gottes ist.

Joseph also ist der Sohn Gottes und der Bräutigam von Aseneth. Somit ist bereits zu diesem Zeitpunkt klar, dass mit Joseph niemand anders als Jesus und folglich mit Aseneth niemand anders als Maria Magdalena gemeint sein kann. Dafür spricht auch die Beschreibung, die wir oft in Bezug auf Maria Magdalena antreffen: Sie ist groß, anmutig und hat eine Art jüdische Seele in einem heidnischen Körper.

Die Zusammenhänge von Aseneth, Maria Magdalena, Turm und Kirche

Es sind besonders die Symbole von Turm und Kirche, welche Aseneth und Maria Magdalena miteinander verbinden. Dies wird durch folgende drei Argumentationsstufen deutlich:

1) Kirche = Turm

Im Syrischen Christentum ist das Symbol der Ecclesia ein Turm. Ephräm der Syrer (306-373) schreibt darüber:

Die Kirche ist zudem der Turm.

Der Turm, den Viele bauten,

war ein ein Symbol, auf den Einen blickend:

Er kam hernieder und erbaute auf Erden

den Turm, der zum Himmel führt.

Dies ist eine Andeutung auf Jesus, der Maria Magdalena bekehrte und zur Apostelin machte, und zugleich eines spirituellen Weges, der zu Gott führt.

2) Aseneth = Turm, Maria Magdalena = Turm

Aseneth ist buchstäblich die Frau im Turm, sozusagen die Turmfrau“. Und die einzige „Turmfrau“ in der christlichen Tradition ist Maria Magdalena. Später wurde dieser Aspekt in der christlichen Legende auf die Heilige Barbara und im Volksmärchen auf Rapunzel übertragen. Ihre Heimatstadt heißt auf hebräisch Migdal, auf aramäisch Magdala, und die Übersetzung davon lautet jeweils „Turm“.

3) Aseneth = Kirche, Maria Magdalena = Kirche

Ephräm Syrus schildert Aseneth, die Turmfrau, als Typus der Kirche. In Hymnus 21 schreibt er:

Du [Ephraim] bist der Sohn von Aseneth, Tochter eines Heidenpriesters;

Sie ist das Symbol der Heidenkirche.

Aus diesem Grund wurde Aseneth zum Symbol der Kirche. Bemerkenswert ist dabei besonders, dass sie das Symbol der Heidenkirche genannt wurde. Und Maria Magdalena war ursprünglich eine Heidin, die durch Heirat mit Jesus bekehrt und später, vor allem bei Hippolyt (Kommentar zum Hohenlied) und bei Origenes als Sinnbild der Ecclesia erscheint (zu MM als Ecclesia siehe Die Göttin des Christentums: Maria Magdalena“, S. 213, 215ff., 227). Joseph heiratete die Tochter eines unreinen Priesters, und Jesus brachte die Kirche der unreinen Heiden in sein Leben. Oder anders gesagt: Joseph heiratete Aseneth und Jesus Maria Magdalena. Cyprian, der Kirchenführer von Karthago (3. Jh.) sagte: Die Kirche ist die Braut Christi, und jemand, der nicht die Braut zur Mutter hat, kann Gott nicht zum Vater haben.“

Wiederum Ephräm Syrus bezieht sich explizit auf Maria Magdalena UND Aseneth als Braut Christi und Symbol der Kirche. Der Text lautet:

Lasst uns die Kirche „Maria“ nennen.

Denn es steht ihr zu, zwei Namen zu haben.

Weil für Simon, den Gründer,

Maria als Erste zum Grab [Jesu] lief,

Und wie die Kirche ihm die frohe Kunde brachte

und ihm berichtete, was sie gesehen:

Dass unser Herr war auferstanden.

Es ist vollkommen klar, dass hier nicht die Jungfrau Maria, sondern nur Maria Magdalena gemeint sein kann - die Erste, die zum Grab lief, die mit zwei Namen, die die Kirche genannt wird. Petrus mag der Gründer der Kirche sein, Maria Magdalena aber ist wie Aseneth das Sinnbild der Kirche.

Zusammenfassend also kann man sagen:

Aseneth = Kirche = Turm

Maria Magdalena = Kirche = Turm!

Weitere Indizien:

- In JuA wird die Person der Aseneth bis ins Detail genau beschrieben. Ihre Persönlichkeit, ihr Turm mit zehn Zimmern, ihre ersten Eindrücke von Joseph.

- JuA erzählt eine ausführliche Liebesgeschichte zwischen Joseph und Aseneth. Beide werden dargestellt als rein, jungfräulich, füreinander bestimmt und miteinander vertraut.

- JuA legt auch Wert auf die körperliche Verbindung zwischen Joseph und Aseneth: Berühren, Küssen und schließlich sexuelle Beziehungen.

- JuA beschreibt eine Unio Mystica zwischen Aseneth und dem engelgleichen Joseph. Diese beinhaltet auch ein merkwürdig anmutendes Ritual, bei deren Zelebrierung auch Honigwaben gegessen werden. Im Alten Testament, bei Levitikus 2,11 gehört Honig ausdrücklich zu den Dingen, die aus der Liste der Dinge, die Gott geopfert werden durften, entfernt wurde! Also abermals eine deutliche Distanzierung vom Judentum und der gleichnamigen Erzählung aus der Genesis.

- Aseneth wird genannt „Die Stadt der Zuflucht“, und Maria Magdalena ist, wie weiter oben schon gesagt, in der Offenbarung ebenfalls als Stadt versinnbildlicht, nämlich als Neues Jerusalem.

- Der Text beinhaltet Redewendungen wie Kelch der Unsterblichkeit und Öl der Unvergänglichkeit - eine Sprache, die in der Geschichte des Alten Testaments völlig unbekannt ist. Er hat nichts gemein mit der gleichnamigen ATlichen Erzählung, ist keine überarbeitete Neufassung davon, sondern eine völlig unabhängige, eigene Geschichte von weltumspannender Dimension. Mit großer Wahrscheinlichkeit beruht er auf historischen Tatsachen, in ein gnostisches Gewand gekleidet. Aus dem Kelch wurde später der Gral, und das Öl bezieht sich auf das Salböl Maria Magdalenas!

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Ausführliche Argumentation siehe in der Arbeit von Jacobovici und Wilson!

Das Buch bei Lehmann's hier.